Warum uns Dominanz nicht weiterhilft

Als ich vor vielen Jahren anfing, mich mit Pferden auf eine andere Art und Weise auseinanderzusetzen, war das „Alterntive Bild“ geprägt von dem Gedanken, der Mensch müsse dass ranghöchste Tier in der fiktiven Zweierherde sein, ein kompetenter Leader, denn nur so könne es sich dem Menschen anschließen, der als „Chef im Ring“ seine Position verteidigt. Vor dem Hintergrund der natürlichen Herdenkonstellation klang mir das plausibel und fortan habe ich meinen „Rang“ verteidigt. Dass viele Leute es mir gleich taten und ich mit dem Strom schwamm und es in der Praxis ja auch gut funktionierte, bestätigte mich weiter in meinem Irrweg. Wohl gefühlt habe ich mich oft nicht damit, denn in der Praxis bedeutete es doch auch oft, Regeln über Strafe durchsetzen zu müssen, das Pferd zu begrenzen und zu regulieren, wenn es nicht gehorchte. Dabei wollte ich doch eigentlich vor allen Dingen ein freundschaftliches Miteinander – keinen Mitarbeiter, der sich mir unterordnet. Doch man kann schließlich nur tun, was man kann und auf der Grundlage seines eigenen Wissens Entscheidungen treffen, die man als richtig einstuft. Und so blieb ich dabei, denn ich wollte schließlich das beste für mein Pferd. 

Heute geht man davon aus, dass eine artübergreifende Rangordnung zwischen Mensch und Pferd nicht existiert und das Verhalten des Pferdes gegenüber dem Mensch vielmehr abhängig von den Konsequenzen für sein Handeln ist und nicht von einem sozialen Status – um es zu verdeutlichen, dem stimme ich zu. Selbst  in der Herde ist die Hierarchie nicht immer klar geregelt und sondern ist abhängig von der Situation und weiteren Faktoren. Dazu kommt, dass die von Menschen zusammengestellten Herden häufig aufgrund von Ressourcenmangel (zu wenig Futterplätze, Wasserplätze, Beschäftigung und auch einfach Platz) sehr konfliktreich sind und kein representatives Bild der Natur wieder geben. Denn wenn genügend Ressourcen zur Verfügung stehen, entstehen selten ernsthafte Konflikte und handfeste Auseinandersetzungen- Trotzdem ist das Wort Dominanz, Rangordnung und Herdenchef aus der Pferdewelt nicht wegzudenken und immer wieder offenbar „Standardlösung“, wenn es Probleme zwischen Mensch und Pferd gibt.

Auch ich habe lange Zeit nicht entscheiden können, ob ich nun an eine Dominanztheorie glaube oder nicht, bis ich mich ganz klar davon distanzieren konnte (auch, wenn ich sie damals schon anders definiert hatte und es für mich weniger mit Unterodnung, als mit „Führung“ zutun hatte). Oft sind die Menschen auch nicht offen für eine Diskussion, weil sich sie sich mit der Erkenntnis, ihrem Pferd vielleicht Unrecht zutun, nicht wohl fühlen und lieber nicht näher darüber nachdenken möchte. Als ich für mich eine neue Erkenntnis und einen klaren Standpunkt gewonnen hatte, habe ich aufgehört, meinen Schülern einfach nur zu erklären, warum das meiner Meinung nach nicht zutrifft. Stattdessen habe ich habe angefangen, Fragen zu stellen, um die Leute zum Nachdenken anzuregen, damit sie sich selbst auf die Suche nach „ihrer Wahrheit“ machen.

 „Warum glaubst du, dass Dominanz etwas ändert?“ und „Was bedeutet Dominanz für dich?“ habe ich gefragt und eigentlich immer ähnliche Antworten erhalten.

Ein respektvolles Miteinander, die Möglichkeit, in schwierigen Situationen die Führung zu übernehmen und das Pferd in Sicherheit zu wiegen. Auch das eigene Sicherheitsbedürfnis ist ein großer Motivator, sich gegenüber dem Pferd als der „Anführer“ zu behaupten! Das Pferd soll sich einem anschließen, motiviert mitmachen, weil es weiß, dass wir nur das Beste für es wollen. Vertrauen soll es habe, gerne mit seinem Mensch zusammen sein und ihm möglichst blind überall hinfolgen. Auch der Wunsch nach Harmonie, nicht ständig mit dem Pferd „diskutieren“ zu müssen, spielt offenbar eine große Rolle. Und naturgemäß möchte Mensch auch gerne immer das letzte Wort haben ;). All diese Ziele lassen sich auch ohne eine „Leittier-Ideologie“ erreichen, wenn man sich mit dem Lernverhalten des Pferdes auseinandersetzt.

Auch ein scheinbar dominantes Pferd ist häufig ein Grund, selbst dominanter sein zu wollen. Doch ist ein „dominantes Pferd“ nicht vielmehr Symptom als Ursache? Ein dominantes wirkendes Pferd ist letztlich nur ein Pferd, welches sich nicht wie gewünscht verhält – Die Kategorisierung in „unerwünschtes“ oder „falsches Verhalten“ ist ausschließlich menschlicher Natur. Für das Pferd ist letztlich Verhalten immer richtig, genau wie auch wir in der Regel keine Entscheidungen treffen, von denen wir wissen, dass sie falsch sind. Dominanz ist also einfach nur ein Etikett, dass eine individuelle und vielfältige Einschätzung widerspiegelt. Für den einen bedeutet es, dass das Pferd nicht schnell genug auf Signale reagiert und „hinterfragt“, für den anderen, dass es sich ständig erschreckt, weil es dem Menschen nicht traut und selbst die Führung übernehmen möchte, der nächste fühlt sich nur bei ernsthaften Angriffen des Pferdes genötigt, dieses Etikett zu nutzen…

Viele Menschen wünschen sich also eine Beziehung zwischen Pferd und Mensch, die ähnlich einer gewissen Konstellation zwischen den Mitgliedern einer Pferdeherde ist. Das ist verständlich und nachvollziehbar für mich. Doch wie genau erreichen wir eine solche Beziehung? WANN macht es einen Unterschied in der Arbeit, ob die Theorie vom Leittier nun Wahrheit oder Märchen ist? Fast immer spielt diese Theorie dann eine Rolle, wenn der Mensch gegenüber dem Pferd eine Forderung durchsetzen möchte und dazu (aversiven) Druck benötigt. Insbesondere dann, wenn mehr Druck notwendig scheint, als man üblicherweise nutzt oder nutzen möchte. Ist Dominanz also häufig nur eine Legitimation, Druck anzuwenden und letztlich seine Forderung um jeden Preis durchzusetzen, „weil es so sein muß“? Ist es nicht häufig so, dass man eigentlich weniger Druck anwenden möchte, doch die Theorie vom Alpha-Tier in der Entfaltung anderer Möglichkeiten eher hinderlich ist? Ist diese Theorie nicht sogar oft der Grund, überhaupt auf aversiven Druck im Training zurückzugreifen? Würden wir uns nicht viel besser finden, wenn wir die gleichen Ergebnisse ohne eben diesen erreichen könnten? Geht schon, muss man aber wirklich wollen …

Weniger Fragen ist selten mehr Wert für’s Pferd

Zu häufig wird Zeit, besserer Trainingsaufbau, gutes Timing und Belohnung durch pauschale Anwendung von (mehr) Druck ersetzt, statt an seinen Qualitäten als Trainer zu arbeiten. Dabei sind genau dies wichtige Voraussetzungen, um eine gute Beziehung zwischen sich und seinem Pferd herzustellen. Natürlich folgt einem das Pferd auch, wenn man ihm immer wieder erklärt, dass ein bestimmtes Verhalten nicht erwünscht ist, aber warum sind wir so sicher, dass es das auf Grundlage der Beziehung und nicht au Grundlage der unangenehmen Konsequenzen tut? Hierzu gab es einiges an Erkenntnissen in den letzten Jahren, denn letztlich ist die Leittier-Theorie nie wissenschaftlich untersucht worden, sondern vor allen Dingen die Folge von Überlieferungen. Ist es nicht sogar wahrscheinlicher, dass sich das Pferd uns anschließt, wenn es uns vor allen Dingen mit positiven Ereignissen und Konsequenzen verbindet? Würde das nicht im Umkehrschluss die Situation für beide – Pferd und Mensch – deutlich verbessern, weil beide Parteien ein bisschen „gnädiger“ miteinander umgängen?

Niemand ist perfekt und man kann nicht immer alles Wissen und auf Anhieb richtig machen – aber es macht einen Unterschied, ob man das Problem bei sich und oder dem Pferd sucht. Wer am Ende Ausreden sucht, um Druck anzuwenden, der hat einfach nicht richtig recherchiert oder sucht eine Legitimation, nicht weiter nachdenken zu müssen. Denn freilich, manchmal gehört auch der eigene Verzicht dazu, das Hintenanstellen seines Egos oder eigener Wünsche zu Gunsten des Pferdes – damit kann nicht jeder Umgehen. Und das möchte vielleicht auch nicht jeder. Das ist in Ordnung. Dann sollte man allerdings auch dazu stehen, statt Ausflüchte zu suchen, warum dieses oder jenes nicht ohne aversiven Druck funktionieren kann. Wer jedoch an der Leittier-Theorie festhält, der beschränkt sich nur selbst der Entwicklungsmöglichkeiten. Weil er das Pferd und sein Verhalten simplifiziert, ihm die falschen Motive für sein Verhalten unterstellt und so auch seine Persönlichkeit und Lernpräferenzen nicht berücksichtigt, statt nach tatsächlichen Gründen für das Verhalten und positiven Lösungsansätzen zu suchen.

Warum zeigt das Pferd das entsprechende Verhalten? Was möchte es damit bezwecken? In welchen Situationen tritt das Verhalten auf, in welchen nicht? Wie wurde das Verhalten bisher verstärkt (denn wenn es immer wieder auftaucht, wurde es zweifelsohne verstärkt …)? Warum lohnt sich das Verhalten für das Pferd mehr, als das Verhalten, welches wir uns wünschen? Welches Verhalten möchten wir stattdessen sehen? Wie können wir dieses erarbeiten und es lohnenswerter für das Pferd machen? Was kann ICH tun, um mit meinem Verhalten dem Pferd zu helfen? Das sind Fragen, die gestellt werden müssen – wie einseitig wäre das Training, wie vieler Möglichkeiten würde man sich berauben, wenn die Antwort hierauf am Ende nur Druck und Begrenzung, in welcher Form auch immer, wäre?

Das natürliche Lernverhalten bietet so viel mehr Möglichkeiten, Verhalten zu trainieren und das Training durch überwiegend positive Emotionen zu begleiten. Dazu benötigt es jedoch jede Menge Selbstreflexion und Wissensdurst, einiges an Zeit und Übung, bis einem zumindest in kontrollierter Umgebung für die meisten Verhaltensantworten des Pferdes eine passende Antwort ohne aversiven Druck oder Strafe in den Sinn kommt. Wer mit den entsprechenden Fähigkeiten eines guten Trainers ausgestattet ist, der braucht keine Legitimation zur Anwendung von Druck im Training, denn er weiß und vertraut darauf, dass es auch eine Lösung ohne Druck gibt, selbst wenn er sie in diesem Moment vielleicht nicht sofort parat hat.

In dubio pro equus – Im Zweifel für das Pferd.

Quellen zum Weiterlesen: https://equitationscience.com/equitation/position-statement-on-the-use-misuse-of-leadership-and-dominance-concepts-in-horse-training und https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0737080617300059