Einer der größten Missverständnisse rund um das positive Training ist meiner Meinung nach, dass unerwünschtes Verhalten des Tieres ignoriert wird. Zugegeben, als Aussenstehender mag es im ersten Moment so aussehen, als würde der Trainer das Verhalten ignorieren, tatsächlich ist aber in den meisten Fällen genau das Gegenteil der Fall.

Positives Training setzt auf Prävention und vorausschauendes Handeln

Als Trainer mit positiver Verstärkung ist es wichtig, möglichst so zu trainieren, dass unerwünschte Verhaltensweisen gar nicht erst auftreten. In der Regel hat der Trainer also bereits im Vorfeld die Dinge trainiert, die ihm wichtig sind und erwünschtes Verhalten verstärkt. Auch wird er versuchen, das Tier nicht einer Situation auszusetzen, der es nicht gewachsen ist.

Nun sind aber weder wir, noch unsere Tiere perfekt. Und schon gar nicht unsere Umgebung, die wir nur zu einem Teil beeinflussen können – wir trainieren schließlich nicht im Labor. Das heißt, unerwünschtes Verhalten kann auftreten und ist kein Beinbruch – wenn man weiß, wie man damit umgeht. Eine der vielfältigen Möglichkeiten ist tatsächlich, zunächst nicht darauf einzugehen. Von Ignorieren kann man hier allenfalls für das Tier sprechen, denn der Mensch wird das Verhalten nicht ignorieren, sondern hat entweder im Vorfeld bereits einen Plan dafür gehabt oder überlegt jetzt gerade in diesem Moment, wie man damit am besten umgeht. 

 

“Augen zu und durch!”, Schadensbegrenzung und weiterführende Strategien

Handelt es sich um ein nicht lange andauerndes und eher unproblematisches Verhalten, kann es Sinn machen, einfach nicht darauf einzugehen, auch wenn dies bedeutet, dass das Fehlverhalten dadurch ggf. verstärkt wird, weil das Tier sich zum Beispiel in dieser Situation selbst belohnt.

In einer solchen Situation ist das Kind schon in den Brunnen gefallen und man wird “Schadensbegrenzung” betreiben. Der Trainer wird das Verhalten als Feedback über das eigene Training heranziehen und den Trainingsplan so anpassen, dass das Tier beim nächsten Mal besser reagieren kann. Springt der Hund z. B. in die Leine, weil er sich bedroht fühlt, oder scheut das Pferd, weil es Angst hat, wird man überlegen, was hier schief gelaufen ist. Vielleicht war der Abstand zu gering und das vorhergehende Training noch zu kurz, die Belohnungshistorie für das erwünschte Verhalten nicht ausreichend. Vielleicht gab es im Vorfeld schon Situationen, die die Konzentration des Tieres beeinträchtigt haben, oder man hat die Situation anderweitig falsch eingeschätzt.

Wird eine solche Situation ohnehin kurz darauf beendet, weil sich der Auslöser entfernt, besteht oft kein sofortiger Handlungsbedarf, ausser der Reflektion des Trainings. Dauert die Situation jedoch an, gibt es zum Beispiel die Möglichkeit, selbst aus der Situation zu gehen. Auch hier findet Verstärkung statt – in der Regel nämlich negative Verstärkung, weil das sich Sntfernen dem Tier Erleichterung verschafft. Dies kann manchmal durchaus eine sinnvolle Alternative sein, wenn ich dem Hund zum Beispiel beibringen möchte, dass man sich aus Konflikten mit anderen Hunden lieber entfernt, statt aus Angst den anderen Hund anzugehen – es lehrt dem Hund eine neue Strategie, die im Idealfall für alle Beteiligten besser funktioniert als die vorherige. Aber das ist nur eine Möglichkeit von vielen. Mit einem Pferd, welches gerade lernt, sich am Strick führen zu lassen, würde man ggf. zunächst die gleiche Strategie wählen – sich vom Auslöser entfernen – die weiterführende Strategie wird jedoch vermutlich abweichen, da das Pferd nicht lernen sollte, dass man sich in einer solchen Situation einfach “aus dem Staub” machen kann. Das heißt, man wird zum Beispiel in sicherer Entfernung noch einmal stehen bleiben und Gegenkonditionieren und im weiteren Verlauf noch mal einen Trainingsschritt mehr einplanen, damit man beim nächsten Mal der Situation gewachsen ist. Auch hier kann man also wieder nicht von ignorieren sprechen.

Beobachtet man eine Situation, wissen wir in der Regel auch nur wenig bis gar nichts über dessen Vorgeschichte. Vielleicht hat der Trainer die Eskalation durchaus schon kommen sehen, aber es ergibt sich gerade keine andere Möglichkeit als die “Augen zu und durch”-Taktik, die sicherlich jeder schon einmal nutzen musste. Auch das bedeutet nicht, dass der Trainer diese Vorgehensweise als langfristigen Lösungsansatz sieht und das Verhalten – wider besseren Wissens – ignoriert.

 

Die Vorstellung von einem gesunden Miteinander sind unterschiedlich

Auch sollte man auch bedenken, dass nicht jeder die gleichen Vorstellung von Verhaltensregeln hat. Vielleicht kann der Trainer gut damit Leben, dass sein Hund zur Begrüßung vor Freude an ihm hoch springt und er weiß ganz genau, was er tut? Vielleicht hat er dem Hund beigebracht, dass man Frauchen durchaus anspringen darf – sich das bei anderen Menschen aber nicht gehört, oder er betreibt Management und lässt Situationen, in denen unerwünschtes Anspringen auftreten kann, gar nicht erst entstehen? Vielleicht findet es der Pferdetrainer gar nicht schlimm, dass das Pferd die Nase in der Jackentasche hat und weiß ganz genau, welche Probleme möglicherweise damit einhergehen? Schließlich kann man im Umgang mit seinem eigenen Tier durchaus auch individuelle Absprachen haben, die sich nicht an gesellschaftlichen Normen orientieren.

Natürlich gibt es sie auch, die Menschen, denen das Verhalten ihres Tieres offenbar ganz egal ist und die scheinbar keinerlei Strategie haben, um damit umzugehen. Die Menschen, bei denen man den Eindruck hat, dass das Verhalten des Tieres sich nicht verbessert, sondern eher verschlechtert. Aber woher nehmen wir uns das heraus, zu beurteilen, was der jeweilige Trainer schon versucht hat? Wissen wir, ob er nicht die Abende auf Google, Facebook oder vor dem Bücherschrank verbringt um nach einer Lösung für das Problem zu suchen und solange einfach versucht, die Zeit irgendwie zu überstehen? Hat nicht jeder schon mal ein solches Problem gehabt? Sei es nun bei sich selbst oder mit seinem Tier?

 

Die Befindlichkeiten seins Tieres nicht zu beachten, ist kein positives Training

Und ja, natürlich gibt es tatsächlich Leute, denen es dann im Enddeffekt wirklich egal ist, ob sie sich, dem Tier oder einem anderen damit schaden, dass sie das Verhalten des Tieres nicht systematisch “behandeln” und damit die Befindlichkeiten ihres Tieres völlig unbeachtet lassen. Doch nicht mal hier kann man von Ignorieren sprechen, weil das Verhalten sehr häufig sogar verstärkt wird. Aber mal im Ernst, mit Training hat das dann nichts zutun und schon gar nicht mit positiver Verstärkung im Sinne von Verhaltenstraining.

 

Strafe und “Grenzen setzen” löst keine Probleme im positiven Training

Absehen wird man in der Regel davon, in einer solchen Situation “Grenzen” über Strafe zu setzen. Das hat vor allen Dingen den Hintergrund, dass man als positiv Verstärker davon ausgeht, dass Strafe das Verhalten nicht nachhaltig zum Positiven verändert und in vielen Fällen sogar verschlechtert. Der Grundidee von positiver Verstärkung ist, dem Tier Verhaltensregeln beizubringen, indem es das erwünschte Verhalten in Abhängigkeit von Signalen zeigt, weil es sich in der Vergangenheit gelohnt hat. Ist dies nicht der Fall, lässt sich dies über gezieltes Verstärken und Veränderung der Situation trainieren und das Verhalten ändert sich, auch ohne dass Tier zu bestrafen. Dazu kommt, dass Strafe in vielen Fällen neue Probleme schafft, weil das Tier sein Verhalten aufgrund von unangenehmen Konsequenzen ändert – was nicht auch automatisch bedeutet, dass das Tier sich so verhält, wie es sich der Mensch vorstellt.

Natürlich kann es dennoch Situationen geben, die sofortiges Handeln erfordern – wenn Mensch oder Tier in Gefahr sind – das ist aber in den wenigstens Situationen der Fall, weil es durch gute Einschätzung, Kenntnis des Tieres und entsprechende Vorbereitung oft gar nicht dazu kommt. Das gilt übrigens im Idealfall nicht nur im Training mit positiver Verstärkung, sondern auch in jeder anderen, seriösen Ausbildungsmethode.

Fehlverhalten hat immer einen Grund, denn jedes Verhalten des Tieres erfüllt im Leben des Tieres eine wichtige Funktion. Ein langfristiger Lösungsansatz sollte also immer darin bestehen, die Ursache zu beheben und erwünschtes Verhalten zu fördern, statt unerwünschtes Verhalten durch aversive Maßnahmen zu „deckeln“.