Ich wurde heute gefragt, ob starkes Übergewicht im Kindesalter eine Form der Kindesmisshandlung sei und daher „anzeigepflichtig“. Ich musste ein wenig darüber nachdenken, nicht weil ich auch dieser Ansicht bin, sondern wie ich jemandem mit einer festgefahrenen Meinung erkläre, warum dieser Ansatz nicht funktioniert und vermutlich sogar mehr Schaden anrichtet, als dass er hilft. Und am Ende fand ich es zu schade, dass dieser Beitrag in den Kommentaren untergeht, und möchte ihn deshalb auch gerne mit euch teilen.

Warum die Frage zu kurz greift

Die Frage, ob starkes Übergewicht im Kindesalter eine Form der Kindesmisshandlung ist, wirkt auf den ersten Blick zwar berechtigt und triggert emotional, doch sie greift zu kurz. Übergewicht entsteht nur in den seltensten Fällen durch aktive Vernachlässigung. Viel häufiger ist es Ausdruck einer Vielzahl ineinandergreifender Faktoren: psychische Belastungen, familiäre Überforderung, finanzielle Einschränkungen, genetische Veranlagung, unerkannte Störungsbilder, gesellschaftlicher Druck, emotionale Regulationsmuster und fehlende niedrigschwellige Unterstützung. Wer hier vorschnell von Kindeswohlgefährdung spricht, verkennt diese komplexen Zusammenhänge und schadet oft mehr, als er hilft.

Persönliche Erfahrungen

Ich war selbst übergewichtig als Kind, und sowohl Eltern als auch Ärzte, Lehrer und Personen um mich herum haben ständig versucht, mich zum Abnehmen zu bewegen. Durch Programme, Kuren, Überwachung – aber mein Umfeld und mein eigentliches Problem, die Psyche, wurde leider gar nicht berücksichtigt. Stattdessen habe ich in dieser Zeit manifestiert, meine Emotionen mit Essen zu regulieren. Das hat nur keiner gesehen, und ich mache da auch niemandem einen Vorwurf.

Mit 8 wurde ich das erste Mal auf Kur alleine „verschickt“, mit 13 wog ich 110 Kilo. Mit Anfang 20 hatte sich mein Gewicht verdoppelt. Ich wurde mein Leben lang von meinem Umfeld stigmatisiert, indem man mir unbewusst vermittelt hat, „was für ein schlechtes Kind ich sei, weil ich übergewichtig bin“, und meine Mutter spielte in diesem Kontext die geringste Rolle – so viel zum Thema Elternverantwortung.

Die Rolle von Stigmatisierung

Inzwischen weiß man natürlich mehr über Ernährung, und natürlich sollte in extremen Fällen auch jemand von außen draufschauen, aber das darf nicht zu Stigmatisierung und überstürztem Handeln führen. Stigmatisierung hilft niemandem. Sie führt zu Scham, Isolation und häufig zu einer weiteren Gewichtszunahme. Viele übergewichtige Kinder lernen früh, dass sie „falsch“ sind. Sie entwickeln ein gestörtes Körperbild, gestörtes Essverhalten und tragen diese Verletzungen oft ein Leben lang mit sich.

Ursachen und Lebensrealitäten

Übergewicht in der Kindheit entsteht nicht durch Faulheit, Unwissen oder mangelnde Erziehung allein. Hier spielen viele Faktoren eine Rolle: psychische Belastungen, familiäre Dynamiken, sozioökonomische Bedingungen, genetische Veranlagung, emotionale Regulationsmuster, fehlende Strukturen im Alltag und ein Umfeld, das oft mehr schadet als zur Orientierung beiträgt. Auch unterschiedliche Lebensrealitäten wie ein Migrationshintergrund, Bildungsbenachteiligung oder sprachliche Barrieren beeinflussen, wie gut Familien mit dem Thema umgehen können.

Notwendige Aufklärung

Ich würde mir stattdessen eine bessere Aufklärung wünschen, die auch die Eltern mit einbezieht und die vor allen Dingen mit der Stigmatisierung aufräumt, dass „dicke Kinder sich einfach nicht im Griff haben“. Awareness für Übergewicht schaffen, aber auch dafür, dass es Gründe dafür gibt und man deshalb kein schlechter Mensch ist. So kann man das Mobbing von Menschen mit Mehrgewicht eindämmen und zu besserer Akzeptanz gelangen.

Fehlende Angebote

Was fehlt, sind niedrigschwellige, psychologisch fundierte Angebote, die nicht an der Oberfläche kratzen, sondern Ursachen und Dynamiken erkennen. Es braucht Programme, die Familien ganzheitlich einbeziehen, auch unter Einbeziehung von Ärzten und Schulen, die finanzierbar sind und nicht die Verantwortung auf das Kind allein abladen. Solange aber unser Umgang mit Übergewicht vor allem aus Diätkultur, Druck und medizinischem Spätinteresse besteht, wird sich wenig ändern.

Und man braucht nicht mal besonders ehrlich sein, um zu wissen, dass es auch für erwachsene Übergewichtige jenseits von bariatrischen Operationen nahezu keine kassengestützten, ganzheitlichen Programme gibt. Was wir brauchen, ist eine Kultur der Achtsamkeit, des Hinschauens und der Unterstützung. Ohne Schuld. Ohne Scham. Und ohne einfache Urteile.

Das Gesundheitssystem und seine Grenzen

Wenn Übergewicht ein bestimmtes Maß übersteigt, wird es zwar als pathologisch eingestuft, doch psychologische oder therapeutische Angebote sind kaum flächendeckend vorhanden und in der Regel nicht kassenfinanziert. Die meisten Ärzte sind nicht geschult und immer noch auf dem Niveau „Essen Sie weniger, machen Sie mehr Sport, reißen Sie sich mal zusammen“. Das ist, als wenn man einem Menschen mit Depression rät, einfach mal das Positive zu sehen.

Operative Eingriffe sind derzeit nahezu das einzige Mittel, das von der Krankenkasse übernommen wird. Dass diese Eingriffe langfristig nicht immer erfolgreich sind, zeigen hohe Rückfallquoten. Ich selbst gehöre dazu.

Gesellschaftliche Perspektive

Und unsere Gesellschaft? Die ist für übergewichtige Menschen nach wie vor eine Katastrophe. Menschen, die keine ernsthaften Probleme hatten oder haben, ihr Gewicht zu halten, kritisieren, wie übergewichtige Menschen unsere Gesellschaft belasten. Dann gibt es Mittel dagegen, und wieder wird stigmatisiert und den Menschen vorgeworfen, dass es nicht in Ordnung ist, sie zu nehmen oder man „zu schwach“ ist, es alleine zu schaffen. Wer hat eigentlich behauptet, dass eine Gewichtsabnahme nur zulässig ist, wenn man sie „unter Schmerzen“ erreicht?

Ein anderer Ansatz

Was fehlt, ist ein Ansatz, der die Betroffenen nicht für ihr Gewicht bestraft, sondern sie ernst nimmt. Eine Gesellschaft, die nicht Schuld zuweist, sondern Hilfe anbietet. Und ein Gesundheitssystem, das nicht erst eingreift, wenn aus Übergewicht eine ernste Erkrankung geworden ist.

Eine denkbare Maßnahme könnte der flächendeckende Aufbau kommunaler Anlaufstellen für familienorientierte Gesundheitsförderung sein, die speziell auf Familien mit übergewichtigen Kindern ausgerichtet sind. Diese Stellen bieten kostenlose, freiwillige und niedrigschwellige Unterstützung durch ein interdisziplinäres Team aus Ernährungsberatung, psychologischer Begleitung, Bewegungsförderung und sozialer Hilfe, getragen von einer wertschätzenden und nicht stigmatisierenden Haltung.

Ziel ist nicht das schnelle Abnehmen, sondern die nachhaltige Stabilisierung familiärer Strukturen, die Stärkung kindlicher Selbstwirksamkeit und die Förderung eines gesunden Alltags, der zur jeweiligen Lebensrealität passt. Damit solche Angebote jedoch wirklich greifen, braucht es gleichzeitig einen gesellschaftlichen Wandel im Umgang mit Gewicht und Gesundheit. Ohne den Abbau von Stigmatisierung, Schuldzuschreibungen und normierenden Körperbildern bleiben selbst die besten Maßnahmen oft hinter ihren Möglichkeiten zurück.

Fazit

Übergewicht ist ein komplexes, multifaktorielles Problem, bei dem in den wenigsten Fällen „mangelnde Disziplin“ schuld ist und für das es keine Standardlösung gibt, dafür aber häufig eine Standard-Stigmatisierung. Statt Schuld zuzuweisen, sollten wir aufklären, begleiten und unterstützen. Eltern brauchen Werkzeuge, keine Vorwürfe. Kinder brauchen Schutzräume, keine Beschämung. Und beide brauchen ein Gesundheitssystem, das nicht erst reagiert, wenn das Gewicht zur Diagnose wird, wenn es denn überhaupt reagiert.