Im vorherigen Teil haben wir über das Thema Desensibilisierung gesprochen. Die Sensibilisierung ist im Prinzip das Gegenteil der Gewöhnung. Bei Sensibilisierung, soll ein bedeutungsloser Reiz eine Bedeutung bekommen, während der angewandte Reiz bei der Gewöhnung an Bedeutung verlieren soll. Gewöhnung kann nämlich auch einen gegenteiligen Effekt haben. Bei Unachtsamkeit oder falscher Anwendung kann Gewöhnung dazu führen, dass das Pferd abstumpft und man auf einen Reiz oder ein Signal nicht mehr die gewünschte Reaktion erhält.
Wird das Pferd ständig mit dem Schenkel oder der unruhigen Hand konfrontiert, ohne dass es auch eine Reaktion darauf zeigt, so stumpft es ab. Es lernt, dass dieser Reiz keine Bedeutung hat, schließlich ist er immer da und es wird nichts unternommen, was eine Reaktion wahrscheinlicher macht – weder etwas angenehmes, noch etwas unangenehmes. Ist das unruhige Bein ein sich ständig wiederholender Reiz, gewöhnt sich das Pferd an diesen und wird ihn bald nicht mehr wahrnehmen.
Es ist wichtig, sich zu verdeutlichen, dass diese Reaktion keine willentliche Reaktion auf den Schenkel ist sondern ein Prozess der Konditionierung zu dieser nicht-Reaktion führt. Natürlich spürt ihr Pferd den Reiz trotzdem, selbst ein Pferd, welches auf keinerlei Schenkeleinwirkung mehr reagiert, wird beim Landen einer Fliege dennoch zusammenzucken … Wie bereits im Artikel zur Gewöhnung erklärt, ist das Gehirn so programmiert, dass es auf unwichtige Reize irgendwann nicht mehr oder nur noch in abgeschwächter Form wahrnimmt. Welche Reize dies sind, ist zu einem großen Teil konditioniert durch Wiederholung. Hören Sie ihren Kühlschrank noch, wenn er brummt? Oder nehmen Sie den Kühlschrank erst wieder akustisch wahr, wenn er nicht mehr brummt? Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie in einem fremden Zimmer schlafen sollen, in dem Sie nicht an das Ticken der Uhr gewöhnt sind? Oder der Wasserhahn, der sonst noch nie getropft hat? Wenn Sie jedes mal die Batterie aus der Uhr nehmen, werden Sie sich daran vermutlich nie gewöhnen… Wenn Sie aber keine Wahl haben, dann tritt irgendwann zumindest für den Moment ein Gewöhnungseffekt ein. Ihr Gehirn blendet den Reiz aus und sie können einschlafen.
Nun stellen Sie sich einmal vor, ihr Schenkel oder gar ihre Stimme sind für Ihr Pferd wie das Brummen eines Kühlschranks – vorhanden, aber unwichtig und damit überhörbar. Keine wünschenswerte Vorstellung, nicht? Vergegenwärtigen Sie sich, das jede Hilfe für ihr Pferd eine Bedeutung haben sollte und auf jede Hilfe auch eine Reaktion erfolgen sollte, damit dieses auch so bleibt. Gerade mit unserer Stimme neigen wir dazu, unser Pferd unter Dauerbeschallung zu stellen, so dass sie an Wichtigkeit verliert. Der Traum, dass unser Pferd etwas nur auf ein Stimmkommando hin ausführt, kann nur Wirklichkeit werden, wenn wir den Einsatz unserer Stimme gründlich Bedenken und damit sehr achtsam umgehen. Das bedeutet nicht, dass Sie nun nicht mehr mit ihrem Pferd reden dürfen. Es bedeutet aber schon, dass Sie überlegen, wann Sie wirklich etwas zu sagen haben und vor allen Dingen was und welche Reaktion Sie damit bekommen möchten. Wenn Sie Ihre Stimme als Markersignal einsetzen oder zur Belohnung, dann ist die Voraussetzung dafür, dass Sie ihr Pferd nicht „dauerbeschallen“, sondern sensibel für ihre Stimme machen, gerade, weil Pferd an sich keine sehr „verbalen“ Tiere sind. Jegliche Reaktion auf unsere Stimme ist dem Pferd im Laufe seines Lebens antrainiert worden und kann auch wieder „gelöscht“ oder neu verknüpft werden.
Wenn das Kind nun einmal in den Brunnen gefallen ist und das Pferd nicht mehr „hört“, muss es also sensibilisiert werden. Dies geschieht, in dem man Konsequenzen für das Pferd schafft. Denn letztlich reagiert das Pferd nun nicht mehr, weil die vorangehende Konsequenz nicht so war, dass das Verhalten wahrscheinlicher wurde – es hat sich für das Pferd einfach nicht gelohnt, zu reagieren.
Überprüfen Sie, ob das Pferd ihr Signal wirklich verstanden hat oder ob dies ein Grund für seine Nicht-Reaktion sein könnte. Falls ja, belohnen Sie bei jeder noch so geringen Reaktion, so dass diese für das Pferd wieder lohnenswert wird. Hat ihr Pferd das Signal nicht verstanden oder „vergessen“, gehen Sie einfach noch einmal einen Schritt zurück in seiner Ausbildung und wiederholen Sie die notwendigen Schritte, in dem Sie auch hier das Verhalten neu aufbauen und eine entsprechende Reaktion belohnen. Wenn ihr Pferd versteht und motiviert ist, wird sich seine Haltung bald ändern und es wird freudig reagieren. Jedoch nur, solange Sie auch weiterhin zumindest bei besonders guter Leistung oder auch nur ab und an belohnen, wenn das Pferd richtig reagiert hat. Andernfalls würde die Leistung irgendwann auch wieder abschwächen.
Eine andere Möglichkeit ist, dass sie einen unangenehmen Reiz verstärken oder aufrecht erhalten, bis das Pferd einen richtigen Verhaltensansatz zeigt. Dies wird vor allen Dingen dann der Fall sein, wenn Sie das entsprechende Verhalten zuvor auch mit negativer Verstärkung trainiert haben. Negative Verstärkung bedeutet, dass Sie das Pferd einem Reiz ausgesetzt haben, den es loswerden will, weil es ihn als unangenehm empfindet. Sie haben z. B. den Schenkel an den Bauch gelegt und fester gedrückt, bis das Pferd reagiert hat und diesen dann wieder entfernt. Bei der negativen Bestärkung ist es besonders wichtig, dass sie sehr penibel darauf achten, dass der Reiz auch wirklich unmittelbar bei richtiger Reaktion aufhört, denn damit bestätigen Sie das Pferd in seiner Reaktion. Das Wegnehmen des unangenehmen Reizes bedeutet damit „Das war richtig“ und führt dazu, dass das Pferd schneller und zuverlässiger reagiert, wenn ihr Timing gut ist. Ob ihr Pferd allerdings auch gerne reagiert, ist abhängig von Intensität, Dauer und Häufigkeit des unangenehmen Reizes und natürlich auch vom Zusammenspiel zwischen Pferd und Mensch. Es spricht außerdem nichts dagegen, das Pferd zukünftig auch zu belohnen, um eine zuverlässige Reaktion und das gewünschte Verhalten aufrechtzuhalten, statt ausschließlich darauf aufzubauen, mehr oder dauerhafter Druck zu machen, damit das Pferd das gewünschte Verhalten auch weiterhin zeigt.
Welchen Weg Sie mit Ihrem Pferd gehen, müssen Sie für sich entscheiden. Es lohnt sich jedoch, sein Verhalten und das Training ständig zu reflektieren, damit die vielen guten Taten ihres Vierbeines, die schönen Reaktionen und das Entgegenkommen Ihres Pferdes nicht einfach untergehen, sondern Sie dieses auch entsprechend honorieren können.
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